Rehaklinik, Neurologie, Ärzte, Schwestern, Psychologen, Therapeuten und Patienten. Lernen, beobachten, staunen, wertschätzen und immer wieder die eigenen Grenzen überschreiten. Ganz was anderes und sehr herausfordernd. Es war großartig und das war es die ganze Zeit. Insgesamt weit über 20 Jahre.
Unser Gehirn verändert sich, es wächst mit seinen Aufgaben. Und mit den richtigen Anreizen kann durchaus beeinflusst werden. Ein Schlaganfall verändert alles. Die Welt steht kurz still, dann bricht sie zusammen. Ein Horrorszenarium wie im Katastrophenfilm. Alles zerstört, nichts funktioniert, Dunkelheit, Kälte. Und dann gibt es im Film immer diese kleine Gruppe von Menschen, die nicht aufgeben. Die immer weitergehen, immer wieder aufbauen und an die Zukunft glauben. Wie eine Massenkarambolage auf der Autobahn. Der Weg ist zerstört, unpassierbar. Was nun? Zu Fuß weiter? Umwege fahren? Ist es eine Option, für immer dort stehenzubleiben? Und dann kommen Rettungskräfte und räumen auf. Langsam erscheint Licht am Horizont. Langsam geht es weiter.
Ich erinnere mich an den Patienten, von dem wir sagten, er hätte Glück gehabt. Nur eine Kleinigkeit ist zurückgeblieben. Diese Kleinigkeit bedeutete für ihn aber, kein Auto fahren und seinen Beruf nicht mehr ausüben zu können. Harte Arbeit und viel Neuland auch für mich. Wochen, Monate, Jahre. Immer wieder die Anreize finden, immer wieder anpassen und immer wieder motivieren für die sturen und monotonen Abfolgen. Und dann tiefe Gespräche, kurze Einblicke in das Seelenleben eines anderen Menschen. Dabeisein, wenn das Gehirn neue Wege schafft, wenn Licht auftaucht. Im konkreten Ergebnis umsonst. Und trotzdem hat sich alles verändert. Er ist gewachsen. Neue Kontakte sind entstanden. Neue Schnittstellen tauchten auf. Die ganze Welt war anders. Es wurde heller und leichter und wir mussten uns verabschieden. Er blieb auf seinem beruflichen Weg und wurde Professor. Ab und zu las ich in der Zeitung über ihn, wenn er auf Kongressen unterwegs war. Die nächsten Jahre kamen Postkarten aus allen Teilen der Welt. Er ging ihm gut und er kam viel rum. Mit der Zeit verlor sich unsere Verbindung. Aber immer wird er der Mensch bleiben, der mir gezeigt hat, was möglich ist. Gerade jetzt denke ich wieder viel an ihn. Wir reden über Tempolimit, Elektromobilität und autofreien Sonntag. Und er ist schon so lange Fahrradfahrer…
Und die Patientin, die ihr Kurzzeitgedächtnis verloren hatte. Sie war körperlich gut drauf, stand mitten im Leben, arbeitete mit Jugendlichen. In einer Wohngruppe. Mit benachteiligten Jugendlichen. Sie hat extrem an sich gearbeitet, alle Strategien angenommen, ausprobiert und irgendwie in ihren Alltag integriert. Aber wir waren uns alle einig: in ihrem Job arbeiten geht ja wohl mal gar nicht mehr. Die Jugendlichen nehmen sie doch sofort auseinander. Das wäre für alle Beteiligten unverantwortlich. Geht gar nicht. Sehr schade für sie. Die Patientin sah das allerdings komplett anders. Das hieß viele Diskussionen, wechselnde Stimmungen und viel zu oft auch entnervte Worte – auf beiden Seiten. Sie tat uns leid und gleichzeitig waren wir wütend. Sie hörte einfach nicht auf uns. Sie machte einfach ihr Ding! Und dann gelang es ihr tatsächlich. Obwohl sie sich an keine Absprachen erinnerte, sich keine Gesprächsinhalte merken konnte, machte sie ihre Arbeit. Irgendeine der Strategien dockte an und funktionierte. Sie kam zurecht und die Jugendlichen kamen mit ihr zurecht. Wie bisher. Es hatte sich in ihren Beziehungen zueinander nichts wesentliches verändert. Es erforderte viel Anstrengung von ihrer Seite und sicher auch guten Willen von der anderen, aber es klappte. Keines der Horrorszenarien, die wir ihr vorhergesagt hatte, traf ein. Kein einziges. Sie war enorm stolz und das zu Recht. Und wir waren still – auch zu Recht. Ich habe so viel gelernt von dieser Patientin. Und das habe ich immer noch sehr deutlich vor Augen.
Und dann veränderte sich wieder alles.